Mensch und Leistung

In un­se­rer Welt der Wirt­schaft spielt die Ma­the­ma­tik eine her­aus­ra­gen­de Rolle.

Jedes Un­ter­neh­men be­treibt sein Con­trol­ling, des­sen Da­ten­er­fas­sung und Be­rech­nun­gen die Basis für die Ent­schei­dun­gen des Ma­nage­ment sind.

Ist alles be­re­chen­bar?

Es gibt in mei­nen Augen ein gra­vie­ren­des Pro­blem, denn was meist ver­ges­sen wird, ist die Tat­sa­che, dass man nicht alles be­rech­nen kann. Viel­leicht mag mir der eine oder an­de­re wi­der­spre­chen, aber ich zu­min­dest habe bis heute keine For­mel für die Be­rech­nung der Leis­tungs­fä­hig­keit des Men­schen ge­se­hen.

Theo­re­tisch lässt sich alles be­rech­nen, ich brau­che nur die For­mel und die zu­ge­hö­ri­gen Fak­to­ren. Die Schwie­rig­keit ist meis­tens die Er­fas­sung der not­wen­di­gen Fak­to­ren. So­wohl der Mensch als auch die Ma­schi­nen sind ein­fach zu kom­plex. Beim Men­schen, kön­nen wir zum Bei­spiel nicht auf die im Ge­hirn ge­spei­cher­ten In­for­ma­tio­nen zu­grei­fen. Da aber das Ge­hirn die Leis­tung des Men­schen steu­ert, ist somit klar, dass eine Be­rech­nung nicht mög­lich ist. Zudem ist der Kör­per­bau eines jeden Men­schen ein­zig­ar­tig.

Ganz schwie­rig wird es, wenn man das Zu­sam­men­spiel meh­re­rer Men­schen be­trach­tet. Es scheint, als wür­den hier alle Re­geln der Ma­the­ma­tik über den Hau­fen ge­wor­fen. Plötz­lich kann 1 + 1 > 2 sein, wenn man die Ent­wick­lung von Krea­ti­vi­tät be­trach­tet.

Ma­xi­ma­le Leis­tung

Aber warum soll­te man sich dar­über über­haupt Ge­dan­ken ma­chen? Da ich die Leis­tungs­fä­hig­keit von Men­schen nicht be­rech­nen kann, ist na­tür­lich auch nicht klar, wo deren ma­xi­ma­le Leis­tung liegt. Auf der an­de­ren Seite ist die Leis­tung der Men­schen beim Thema Un­ter­neh­mens­er­folg aus­schlag­ge­bend.

Ich habe oft das Ge­fühl, dass Un­ter­neh­mens­ma­na­ger of­fen­sicht­lich davon aus­ge­hen, dass die Mit­ar­bei­ter ihre Leis­tungs­fä­hig­keit in aus­rei­chen­dem Maße aus­schöp­fen. Spie­len wir aber wirk­lich schon in der Ober­li­ga der Leis­tungs­fä­hig­keit?

Eines müs­sen wir bei der Frage zu­erst be­trach­ten: Mit Leis­tung ist nicht al­lein der Grad der kör­per­li­chen oder geis­ti­gen Ar­beit ge­meint. Die Leis­tung die wir mei­nen, ist Leis­tung, die zur Wert­schöp­fung eines Un­ter­neh­mens bei­trägt. Auch die Ent­wick­lung von Krea­ti­vi­tät kann Leis­tung sein. So könn­te es theo­re­tisch sein, dass je­mand an einem „Burn Out“ lei­det und somit seine kör­per­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit über­schrit­ten hat, ohne über­haupt we­sent­lich zur Wert­schöp­fung bei­getra­gen zu haben. So etwas ist gar nicht sel­ten, vor allem bei Füh­rungs­kräf­ten, die mei­nen, sie müss­ten die Kon­trol­le über alles be­hal­ten.

Ein Bei­spiel

Vor Jah­ren habe ich einen son­der­ba­ren Fall er­lebt. Eine, im Drei­schicht­be­trieb be­trie­be­ne An­la­ge, pro­du­zier­te plötz­lich in einer Schicht re­gel­mä­ßig mehr, als die an­de­ren zwei Schich­ten zu­sam­men. Das ging über Mo­na­te so, ohne dass je­mand ver­stand, warum das so war. Dabei war die Leis­tung der an­de­ren zwei Schich­ten im nor­ma­len Be­reich.

Eine Ana­ly­se brach­te schließ­lich fol­gen­des er­staun­li­che Er­geb­nis: Das Un­ter­neh­men hatte eines sei­ner Werke ge­schlos­sen und den Mit­ar­bei­tern Ar­beit in einem der an­de­ren Werke an­ge­bo­ten. Ei­ni­ge nah­men das An­ge­bot an und zogen mit ihren Fa­mi­li­en um. Sie wer­den es schon er­ra­ten haben, die leis­tungs­star­ke Schicht be­stand aus über­wie­gend eben die­sen Mit­ar­bei­tern. Aber was mach­te die­sen gra­vie­ren­den Un­ter­schied aus?

Diese Mit­ar­bei­ter hat­ten ein ge­mein­sa­mes Schick­sal, wel­ches sie sehr stark zu­sam­men­schweiß­te. Das führ­te dazu, dass sie sich ge­gen­sei­tig bei der Ar­beit un­ter­stütz­ten. Hatte je­mand aus dem Team ein Pro­blem, kamen die an­de­ren so­fort her­bei und hal­fen mit, das Pro­blem zu lösen. Die Mit­ar­bei­ter der an­de­ren Schich­ten hin­ge­gen hat­ten diese Bin­dung nicht. Sie agier­ten eher wie Ein­zel­kämp­fer und der per­sön­li­che Vor­teil stand im Vor­der­grund. Sie hal­fen sich nicht ge­gen­sei­tig und wenn die An­la­ge ein­mal stand, weil einer der Be­die­ner ein tech­ni­sches Pro­blem hatte, nutz­ten die an­de­ren die Zeit gerne für eine Kaf­fee­pau­se.

Die­ses Bei­spiel zeigt, wie groß die Leis­tungs­un­ter­schie­de sein kön­nen. In­ter­es­sant ist auch, dass die Mit­ar­bei­ter aus dem leis­tungs­star­ken Team mit viel mehr Freu­de zur Ar­beit gin­gen als die Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen aus den an­de­ren Schich­ten. Wir haben hier mit einem klas­si­schen Fall von in­trin­si­scher Mo­ti­va­ti­on zu tun. Also Mo­ti­va­ti­on ohne eine Kraft von außen. Die­ses Bei­spiel zeigt aber auch, dass in vie­len klas­sisch auf­ge­stell­ten Un­ter­neh­men eine Pro­duk­ti­vi­täts­stei­ge­rung von über 100% durch­aus mög­lich ist.

Mensch­li­ches Leis­tungs­po­ten­zi­al

Eines dür­fen wir aber nicht ver­ges­sen: Wenn wir über mensch­li­ches Leis­tungs­po­ten­zi­al reden, gibt es immer auch eine Kehr­sei­te der Me­dail­le. Damit meine ich Men­schen, die ihre Leis­tungs­gren­ze über­schrei­ten (müs­sen). Das hat ver­hee­ren­de Aus­wir­kun­gen, denn es lei­det nicht nur die Ge­sund­heit der Be­trof­fe­nen, son­dern es kos­tet die Un­ter­neh­men viel Geld. Hier ist es ähn­lich wie bei der Be­rech­nung der Leis­tung. Es feh­len For­meln und Fak­to­ren. Des­halb ver­sucht kaum einer den Ver­lust von „Hu­man­ka­pi­tal“ zu be­rech­nen und es taucht sel­ten in der be­triebs­wirt­schaft­li­chen Kal­ku­la­ti­on auf.

Aber die an­ge­spro­che­nen The­men las­sen sich meis­tens lösen. Tat­säch­lich haben es in den letz­ten Jahr­zehn­ten welt­weit viele Un­ter­neh­men ge­schafft, die mensch­li­chen Po­ten­zia­le durch den ge­schick­ten Ein­satz von Lean/TPM-​Me­tho­den bes­ser zu nut­zen. Aber lei­der sind ge­ra­de in Eu­ro­pa sol­che Fälle immer noch viel zu sel­ten.

Warum ist das so?

Um­den­ken im Bil­dungs­sys­tem

Es wer­den viele Dinge falsch oder gar nicht ver­mit­telt. Die Soft Facts als Fak­tor der Pro­duk­ti­vi­tät wer­den völ­lig un­ter­schätzt. Ich habe selbst er­lebt, wie die Pro­jekt­ar­beit von jun­gen Trai­nees in einem gro­ßen Kon­zern da­nach be­wer­tet wurde, wie viel Per­so­nal sie frei­set­zen kön­nen.

Kaum einer macht sich Ge­dan­ken über die Mo­ti­va­ti­on der Be­leg­schaft und kaum eine Füh­rungs­kraft wird da­nach be­ur­teilt. Kaum ein Un­ter­neh­men för­dert die Krea­ti­vi­tät sei­ner Mit­ar­bei­ter oder misst die An­zahl der nach­hal­tig ge­lös­ten Pro­ble­me.

Was ein­zig und auf allen Ebe­nen zählt, ist ZDF: Zah­len, Daten, Fak­ten und zwar kos­ten­ori­en­tiert. Und das ist in mei­nen Augen ein gro­ßer Feh­ler. Ich muss es lei­der immer wie­der be­to­nen, der Mensch ist in einem Un­ter­neh­men nicht als Kos­ten­fak­tor, son­dern als das wert­volls­te Ka­pi­tal zu be­trach­ten. Na­tür­lich müs­sen unter dem Strich immer mess­ba­re Be­triebs­er­geb­nis­se ste­hen, aber der Weg dahin muss sich ver­än­dern.

Vi­sio­nen als An­trieb

Neh­men wir zum Schluss noch ein­mal ein Bei­spiel: Elon Musk, der Tesla und SpaceX Chef, ist als Mensch si­cher­lich um­strit­ten, aber er hat vie­len an­de­ren etwas Ent­schei­den­des vor­aus: Er ist in der Lage über Vi­sio­nen und klare Ziele eine ma­xi­ma­le Mo­ti­va­ti­on sei­ner Be­leg­schaft zu er­rei­chen. Für ihn sind krea­ti­ve Teams das Non­plus­ul­tra und Wert­schöp­fung ist wich­ti­ger als Pro­mo­ti­on. Da­durch ist er in der Lage, sein „Hu­man­ka­pi­tal“ ma­xi­mal zu nut­zen. Er schafft es manch­mal das un­mög­li­che mög­lich zu ma­chen und Pro­jek­te in­ner­halb kür­zes­ter Zeit um­zu­set­zen.

Die Worte „geht“ und „nicht“ hat er aus sei­nem und dem Wort­schatz sei­ner Mit­ar­bei­ter ver­bannt. In ge­wis­ser Weise agiert er, wie man es sonst nur aus dem Sport kennt. Er sucht nach den bes­ten Spie­lern für sein Spiel und ist be­reit viel dafür zu be­zah­len. Spie­ler die nur Mit­tel­maß sind, haben auf sei­nem Spiel­feld nichts ver­lo­ren. Er will in der Cham­pi­ons­le­ague spie­len und diese am bes­ten auch ge­win­nen.

In den letz­ten Jah­ren wurde er oft genug von west­li­chen Wirt­schafts­bos­sen mit Hohn und Spott über­zo­gen. Ich kann mich nur zu gut an die eine oder an­de­re Talk­show er­in­nern. Aber wer zu­letzt lacht, lacht am bes­ten.

Mitt­ler­wei­le bringt SpaceX Men­schen zur ISS und im Juni 2020 wurde das noch sehr klei­ne Un­ter­neh­men Tesla plötz­lich pro­fi­ta­bel, wo­durch sogar To­yo­ta als welt­weit wert­volls­ter Au­to­mo­bil­her­stel­ler über­flü­gelt wurde.

Es ist an der Zeit wach zu wer­den und um­zu­den­ken, denn für die eu­ro­päi­sche Wirt­schaft hat die Uhr wahr­schein­lich schon zwölf ge­schla­gen.