Ist Industrie 4.0 die Revolution, die wir brauchen?

Wel­che Be­deu­tung hat die Di­gi­ta­li­sie­rung in der In­dus­trie?

Seit der Be­griff In­dus­trie 4.0 auf­kam, gab es schon Dis­kus­sio­nen, ob es sich hier wirk­lich um eine Re­vo­lu­ti­on han­delt. Schließ­lich deu­tet die Be­zeich­nung ja dar­auf hin.

Wir schrei­ben jetzt das Jahr 2021 und aus mei­ner Sicht ist es keine Re­vo­lu­ti­on und auch die Be­deu­tung, die der Di­gi­ta­li­sie­rung in der In­dus­trie bei­gemes­sen wird, halte ich für etwas über­trie­ben.

Ich ge­hö­re zu den we­ni­gen Men­schen, die das Glück hat­ten, sehr viele Un­ter­neh­men von innen sehen zu dür­fen, des­halb Maße ich mir an, zu dem Thema Stel­lung zu be­zie­hen. Unter „Viele“ ver­ste­he ich hun­der­te. Ich schät­ze, dass ich mehr als 90% der Kom­po­nen­ten­fer­ti­gung in der Au­to­mo­bil­in­dus­trie schon ein­mal ge­se­hen habe.

Ich habe fast alles an Pro­zes­sen in der Le­bens­mit­tel­in­dus­trie ge­se­hen, ich weiß wie Ket­ten, Flug­zeug­trieb­wer­ke, Mö­bel­be­schlä­ge oder See­not­bo­jen usw. her­ge­stellt wer­den.

Aus mei­ner Sicht ist 4.0 für die In­dus­trie in etwa so be­deut­sam, wie eine Lan­dung auf dem Mars für die Mensch­heit. Macht 4.0 die Un­ter­neh­men pro­fi­ta­bler? Hun­gern auf der Erde we­ni­ger Men­schen, wenn ein Land ein Raum­schiff auf den Mars bringt? Ehr­lich ge­sagt, ich glau­be es nicht und ich sehe es nicht. Meine Er­fah­run­gen sind ganz an­de­re.

Di­gi­ta­li­sie­rung über­be­wer­tet?

Ich möch­te nicht den Ein­druck er­we­cken, dass ich gegen eine Di­gi­ta­li­sie­rung bin, aber ich glau­be ein­fach, dass die Di­gi­ta­li­sie­rung in der Pro­duk­ti­on nicht immer pro­fi­ta­bel ist.

Dazu ein paar Bei­spie­le:

Ich kenne Be­trie­be, die haben eine 30 Jahre alte Ma­schi­ne neben einer mo­der­nen, mit Sen­so­ren über­wach­ten und fern­ge­war­te­ten Ma­schi­ne ste­hen. Und wel­che davon er­wirt­schaf­tet die meis­ten Ge­win­nen? Die alte Ma­schi­ne!

Ich kenne Mit­be­wer­ber, von denen der eine auf mo­der­ne Tech­nik setzt und der an­de­re es eher ein­fach hält. Der Markt­füh­rer und gleich­zei­tig das pro­fi­ta­ble­re Un­ter­neh­men ist das, das mit ein­fa­cher Tech­nik ar­bei­tet.

Wir dür­fen nicht ver­ges­sen, dass die mo­der­nen Sen­so­ren mit Mi­kro­chips aus Si­li­zi­um aus­ge­stat­tet sind. Si­li­zi­um ist recht an­fäl­lig gegen Vi­bra­tio­nen und bricht schnell. Ich habe mir die Feh­ler­aus­wer­tun­gen sol­cher mo­der­nen Ma­schi­nen an­ge­schaut. Die An­zahl der Aus­fäl­le ist oft er­schre­ckend hoch. Und eines der Pro­ble­me dabei ist, dass die Leute, die dann das Pro­blem lösen müs­sen, nicht sel­ten in einem fer­nen Land am Com­pu­ter sit­zen. Die Feh­ler­bil­der sind oft viel zu kom­plex, als dass man sie aus der Di­stanz ana­ly­sie­ren könn­te.

Die Ma­schi­nen­her­stel­ler müs­sen die Fach­kräf­te für die Fern­war­tung je­der­zeit vor­hal­ten. Das kos­tet viel Geld und funk­tio­niert lei­der nicht immer. So ist es dann auch keine Sel­ten­heit, wenn eine Ma­schi­ne wegen eines Sen­sor­feh­lers meh­re­re Stun­den oder auch schon mal Tage steht. Hoch­di­gi­ta­li­sier­te Tech­nik wird zwar lang­sam etwas güns­ti­ger, aber die LifeCycle-​Costs soll­te man sich genau an­schau­en. Ich glau­be, die Fir­men las­sen sich bei der An­schaf­fung von Ma­schi­nen zu schnell blen­den und schau­en meis­tens immer noch aus­schließ­lich auf den An­schaf­fungs­preis und nicht auf das, was da­nach kommt.

Bei Fer­ti­gungs­pro­zes­sen, die in Rein­räu­men statt­fin­den, funk­tio­niert die Di­gi­ta­li­sie­rung noch ganz gut. Aber je schmut­zi­ger der Pro­zess wird, je mehr Kräf­te im Pro­zess auf­tre­ten, um so schwie­ri­ger wird es.

Da passt eine Ana­lo­gie mit der Mars­lan­dung ganz gut. Wie viel Pro­zent aller Län­der wären in der Lage, ein Raum­schiff zum Mars zu brin­gen? Bei genau so viel Pro­zent der Un­ter­neh­men macht in mei­nen Augen eine ma­xi­ma­le Di­gi­ta­li­sie­rung der Fer­ti­gung Sinn. Das wir Soft­ware nut­zen, um Pro­zes­se zu steu­ern, brau­chen wir nicht zu dis­ku­tie­ren. Das hat­ten wir schon vor 4.0.

Das Po­ten­zi­al liegt wo­an­ders

Ich hatte es schon öfter an an­de­rer Stel­le er­wähnt, das große Po­ten­zi­al zur Pro­fit­stei­ge­rung liegt ganz wo­an­ders. Die meis­ten Un­ter­neh­men sind ja noch nicht ein­mal „Lean“. Viele glau­ben es viel­leicht, aber die Rea­li­tät sieht an­ders aus. Von hun­dert Un­ter­neh­men die ich be­sucht habe, mes­sen noch nicht ein­mal 10% die OEE. Bei noch nicht ein­mal 10% der Un­ter­neh­men macht jeder Mit­ar­bei­ter einen oder mehr Ver­bes­se­rungs­vor­schlä­ge pro Jahr und bei genau so wenig Un­ter­neh­men sind die Rüst­zei­ten ma­xi­mal op­ti­miert. Das Po­ten­zi­al ist end­los groß und TPM bie­tet hier mäch­ti­ge An­sät­ze.

Wenn mich heute je­mand fragt, ob die Di­gi­ta­li­sie­rung in der In­dus­trie Sinn macht, kann ich ge­nau­so gut fra­gen, ob es Sinn macht, dass Elon Musk Men­schen auf den Mars brin­gen will. Den Men­schen, die hun­gern oder im Krieg ster­ben, hilft das recht wenig. Genau so wird In­dus­trie 4.0 nur re­la­tiv we­ni­gen Un­ter­neh­men zu einer Pro­fit­stei­ge­rung ver­hel­fen.

Wir soll­ten un­be­dingt dar­auf ach­ten, dass wir die Di­gi­ta­li­sie­rung nur dort ein­set­zen, wo sie uns hilft, Ver­schwen­dung und Ver­lus­te zu re­du­zie­ren oder Pro­ble­me zu lösen. Wenn wir Di­gi­ta­li­sie­rung ein­set­zen, weil es alle ma­chen, kann der Schuss auch nach hin­ten los­ge­hen.

Ver­ges­sen wir nicht, dass wir end­los viele an­de­re Pro­ble­me jen­seits der Di­gi­ta­li­sie­rung in den Un­ter­neh­men und auf der Erde zu lösen haben und dar­auf soll­ten wir erst ein­mal un­se­ren Fokus legen.

Eine an­de­re Re­vo­lu­ti­on

Wir wer­den jetzt aber eine ganz an­de­re Re­vo­lu­ti­on er­le­ben. Eine Re­vo­lu­ti­on in der Au­to­mo­bil­in­dus­trie und auf dem En­er­gie­sek­tor. Wir wer­den in­ner­halb we­ni­ger Jahre vom Verbrenner-​ auf Elek­tro­mo­to­ren um­stei­gen. Da für sol­che Fahr­zeu­ge viel we­ni­ger Kom­po­nen­ten ge­braucht wer­den, wird auch die Steue­rung der Just-​in-Time-​Lieferung viel we­ni­ger kom­plex. Aber dort wird sich im Zu­sam­men­hang mit dem au­to­no­men Fah­ren oder der Steue­rung der En­er­gie­flüs­se viel im Be­reich der Di­gi­ta­li­sie­rung und Kom­mu­ni­ka­ti­on ab­spie­len. Die Autos von mor­gen wer­den mit­ein­an­der und mit dem Pro­du­zen­ten ver­netzt sein. Sie wer­den von­ein­an­der ler­nen und das Fah­ren da­durch immer si­che­rer ma­chen.

Das ist toll, aber das ist nicht das 4.0 über das wir reden. Da geht es nicht um die Pro­duk­ti­on an sich. Das ist in mei­nen Augen eine an­de­re Welt.

Ich ver­mu­te, dass es auch eine Welle des In­housing geben wird. Viele Zu­lie­fer­be­trie­be wer­den von den Au­to­mo­bil­her­stel­lern ge­schluckt oder wer­den ganz von der Bild­flä­che ver­schwin­den. Denn ge­ra­de bei der Di­gi­ta­li­sie­rung bringt das Zu­sam­men­füh­ren von un­ter­schied­li­chen In­ter­es­sen zwi­schen Zu­lie­fe­rern und Her­stel­lern mas­si­ve Pro­ble­me mit sich. Ich will jetzt nicht zu sehr in De­tails gehen, aber am Bei­spiel ID3 von VW haben wir in der Ver­zö­ge­rung der Aus­lie­fe­rung die Kon­se­quen­zen ge­se­hen.

Elon Musk hat mit Tesla schon lange einen an­de­ren Weg ein­ge­schla­gen und ich ver­mu­te, dass ihm viele fol­gen wer­den. Aber auch Elon Musk muss­te fest­stel­len, dass die to­ta­le Au­to­ma­ti­sie­rung und Di­gi­ta­li­sie­rung nicht der Weis­heit letz­ter Schluss sind. Auch To­yo­ta baut schon den einen oder an­de­ren Ro­bo­ter wie­der ab und rückt den Men­schen wie­der in den Vor­der­grund. Mal sehen, wer am Ende die Ge­win­ner sein wer­den.

Fakt ist, dass wir eine span­nen­de Zeit vor uns haben.


Ul­rich Sch­leu­ter